Besitzer gesucht! Ein Kinderfahrrad, ein älterer Herr und das Stuttgarter Tagblatt von 1936. Erste Schritte in der Provenienzforschung des MiQua

Im Jahr 2007 beginnt die Geschichte eines unserer ungewöhnlichsten, zukünftigen Ausstellungsstücke in einer Neusser Antiquitätenhandlung. Ein älterer Herr überlässt dem verwunderten Händler völlig kostenlos ein Kinderfahrrad, 84 cm niedrig und rundum eingepackt in vergilbte Zeitungsseiten des Stuttgarter Tagblatts vom 17.08.1936. Vielleicht kam der Schenker wegen des Sammlungsschwerpunkts jüdischer Antiquitäten in die Handlung – wir werden es wohl nicht mehr erfahren. Er habe darauf aufpassen sollen, aber sein Freund komme ja doch nicht wieder, berichtet der ältere Herr. Dann ist er verschwunden. Hat er noch erwähnt, der Vater seines Freundes sei Apotheker gewesen? Der Händler ist sich nicht sicher. Im Anschluss kommt der Kontakt zur damaligen Fördergesellschaft eines zukünftigen jüdischen Museums in Köln, den heutigen MiQua-Freunden, zustande. Es werden Restaurationsmaßnahmen eingeleitet, ein erstes Gutachten angefertigt und einige Zeitungsartikel zum Fall veröffentlicht. Schenker oder Besitzer werden nicht gefunden. Dann wird das nun sogenannte Knabenfahrrad im Depot des Kölnischen Stadtmuseums eingelagert.

Abb. 1: Das Knabenfahrrad im Depot. © Christiane Twiehaus / LVR

Zehn Jahre später: 2020 nimmt das Team des MiQua die Spur wieder auf. Die Recherche zu verfolgungsbedingtem Entzug zur Zeit des Nationalsozialismus ist aktueller denn je und immer mehr Museen und Institutionen nehmen ihre Sammlungen fachmännisch unter die Lupe – so auch wir. Denn die originale Stuttgarter Tageszeitung von 1936 zeugt von einer weiter zurückreichenden Geschichte des Objekts. Die liebevolle Verpackung und Übergabe in die vertrauten Hände des Freundes legen eine längere, vermutlich nicht ganz freiwillige Abwesenheit nahe. 1933 emigrierten erste Jüdinnen*Juden Stuttgarts, 1936 nahmen die Auswanderungen zu. Musste der kleine Junge sein wertvolles Rad bei der Flucht vor der Zuspitzung der politischen Umstände zurücklassen, steht auch hier die Frage der Provenienz im Raum. Als Jüdisches Museum sehen wir uns umso mehr in der Pflicht, eventuelle Nachfahren zu ermitteln und uns an den aktuellen Entwicklungen der Provenienzforschung zu beteiligen. Dazu erfolgte nun die Fundmeldung auf Lost Art, der offiziellen deutschen Datenbank zur Dokumentation von Raub- und Beutekunst, eingerichtet vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste.

Neben den spärlichen Informationen des großzügigen Schenkers und der Datierung der Zeitung bleibt das Fahrrad selbst der verlässlichste Zeuge. Bereits bei der ersten Betrachtung 2009 konnte das Steuerkopfschild der Metallwarenfirma Starkenburg, Ludwig Bauer & Co. zugeordnet werden, die seit 1914 ihren Sitz in Klein-Auheim hatte und seit 1922 Fahrräder produzierte.

Abb. 4: Auszug aus Frank Papperitz, Markenware Fahrrad (2003), Seite 567.
Abb. 5: Detailaufnahme des Fahrradrahmens. © Dierk Holthausen

An dieser Stelle begann für uns im letzten Jahr eine spannende Reise in die Welt der Zweiräder. An die Hand nahm uns dabei Jörg Schulisch, begeisterter Sammler von Bauer-Rädern, dessen Facebook-Seite uns erst auf die Existenz seiner Sammlung aufmerksam machte. Mittlerweile ist daraus das RadWerk in Klein-Auheim erwachsen, eine Ausstellung des Heimat- und Geschichtsvereins. Erste, neuere Erkenntnisse lieferte die Rahmennummer unseres Knabenfahrrads, die durch dessen Expertise und Kenntnis zahlreicher Vergleiche eine Datierung zwischen 1933 und 1935 zulässt.

Abb. 6: Detailaufnahme des Fahrradrahmens. © Christiane Twiehaus / LVR

Motiviert durch die neuen Informationen, wird das Team MiQua die Recherche fortsetzen. Beginnend mit einem Besuch in Klein-Auheim werden wir Einblicke in die Dokumentation der Bauerwerke erhalten und uns unserem Knabenfahrrad weiter annähern. Parallel dazu findet aktuell eine Archivrecherche basierend auf den Informationen der Tageszeitung statt. Dabei stehen Fragen nach Leben, Schicksal und Auswanderung der Stuttgarter Jüdinnen*Juden im Mittelpunkt. Einen ersten Einstieg, auch zu jüdischen Apotheker*innen der Zeit, liefern Monografien wie Maria Zelzers „Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch“ (1964).

Abb. 7: Auszug aus Maria Zelzer 1964, Seite 462.
Abb. 8: Adressbuch Stuttgart 1935, Apotheker. © http://wiki-de.genealogy.net/Stuttgart/Adressbuch_1935

Wir freuen uns, Euch mit auf diese Reise in die Vergangenheit zu nehmen und einen Einblick in den sensiblen Umgang mit Ausstellungsstücken lückenhafter Provenienz zu geben. Anlass für diesen Beitrag ist der vom Arbeitskreis Provenienzforschung e. V. ausgerufene Tag der Provenienzforschung am 14. April 2021.

Ein Beitrag von Nadja Mertens, wissenschaftliche Hilfskraft im MiQua.

Das Beitragsbild ist eine Zusammenstellung der Abbildungen 1 und 3. © Christiane Twiehaus / LVR und Dierk Holthausen.

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. Johannes Wachten sagt:

    Die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend, sehr schön. Viel Erfolg bei der Weitersuche!

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    1. Team MiQua sagt:

      Vielen lieben Dank, Herr Wachten! Wir werden berichten. Herzliche Grüße S. B.

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