Mein Lieblings♥bjekt: Ein mittelalterlicher Zufallsfund

Anfang 2011 waren die Ausgrabungen im Bereich des mittelalterlichen jüdischen Viertels in vollem Gange, als ein Mitarbeiter der Archäologischen Zone ein schmutziges Stück Schiefer in die Hände bekam.

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Seit dem Mittelalter wird Schiefer für Dächer verwendet, der Fund schien also nichts Ungewöhnliches zu sein. Meist werden Schieferfunde bei Ausgrabungen nicht einmal aufbewahrt. Beim Waschen wurde aber etwas Außergewöhnliches sichtbar: die Schiefertafel war beschriftet – in altertümlichen hebräischen Buchstaben!

Nach dieser Entdeckung wurde jedes ausgegrabene Stück Schiefer gewaschen und untersucht. Das Ergebnis war spektakulär: auf hunderten Schiefertafeln entdeckten die Archäologinnen und Archäologen Einritzungen; Zeichnungen, Kritzeleien, kurze Texte in hebräischer und deutscher Schrift. Diese Funde sind deshalb so außergewöhnlich, weil sie zufällig überliefert wurden. Normalerweise haben Texte aus dem Mittelalter nur dann bis heute überlebt, wenn jemand sie damals für besonders wichtig hielt. Alltägliche Dinge wie beispielsweise Einkaufszettel werden meist nicht sorgfältig aufbewahrt und sind deshalb in der Regel nicht erhalten. Die Kölner Schieferfunde ermöglichen also einen seltenen Einblick in das alltägliche Leben der Kölner Jüdinnen und Juden im Mittelalter.

Gunprecht, Jakob und Koppchen

Einige Tafeln enthalten Namenslisten, zum Teil mit Geldbeträgen hinter den einzelnen Namen. Ein besonders gut erhaltenes Exemplar dieser Kategorie ist Fundstück 2204;1. Diese Liste besteht aus mehr als 60 Einträgen, die sich jeweils aus einem Namen und einem Betrag in Heller oder Pfennig zusammensetzen. Es gibt keine Überschrift oder irgendeine zusätzliche Information, nur Namen und Beträge.

Fundstück 2204;1 © Christina Kohnen / Archäologische Zone der Stadt Köln

Die auf der Liste verwendeten Namen unterscheiden sich stark von den Namen der Kölner Jüdinnen und Juden, die uns aus anderen Quellen überliefert sind. Man hatte in der Regel einen „Synagogennamen“, der der traditionellen jüdischen Namensgebung folgte. Dieser Name wurde für ‚offizielle‘ Zwecke verwendet: auf Grabsteinen, in Urkunden oder eben in der Synagoge. Ein typischer Synagogenname wäre etwas wie „Jakob ben [Sohn des] David“. Im Alltag wurden oft Spitznamen und Koseformen verwendet, die heute nur in den seltensten Fällen bekannt sind. Auf Fundstück 2204;1 werden dagegen fast ausschließlich diese Alltagsnamen verwendet, die oft deutschen Ursprungs sind oder verdeutschte Koseformen hebräischer Namen darstellen. Ein gutes Beispiel dafür ist ‚Gunprecht Koppchen‘: Gunprecht ist ein typischer deutscher Vorname des Mittelalters, das ‚Koppchen‘ ist eine verdeutschte Koseform des hebräischen ‚Jakob‘. Die hier verwendeten Namen können also Aufschluss geben über die Bedeutung des Hebräischen und Deutschen im Alltag der Jüdinnen und Juden im mittelalterlichen Köln. Etwa die Hälfte der in der Liste verzeichneten Personen sind Frauen. Diese Tatsache veranschaulicht eine Besonderheit der mittelalterlichen jüdischen Gemeinden im heutigen Deutschland: Frauen und Männer waren im wirtschaftlichen Bereich mehr oder weniger gleichberechtigt. Jüdische Frauen hatten oft eigene Berufe, schlossen ihre eigenen Verträge und verwalteten ihr Geld selbst.

Fundstück 2204;1 und die anderen Schieferfunde aus den Kölner Ausgrabungen werden in Zukunft sicher weitere Informationen über die Vergangenheit der jüdischen Gemeinde der Stadt liefern können. Der zufällige Fund im Jahr 2011 war ein seltener Glücksfall für die Forschung und schafft neue Perspektiven auf den Alltag mittelalterlicher Jüdinnen und Juden. Fundstück 2204;1 wird — neben einigen anderen Schieferfunden der Archäologischen Zone — in der zukünftigen Dauerausstellung des MiQua zu sehen sein.

Ein Beitrag von Maximilian Holfelder.

Maximilian Holfelder studiert im Master Judaistik an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er arbeitet als Hilfskraft am Seminar für Judaistik und hat seine Bachelor-Arbeit über Fundstück 2204;1 geschrieben.

My favourite bject: a chance find from the Middle Ages

The excavations in the area of the medieval Jewish quarter were in full swing in the beginning of 2011 when an employee of the Archaeological Zone found a soiled piece of slate in his hands. As slate has been in use for roofs since medieval times, the find did not appear that unusual. The slates found in excavations are mostly not even kept. But washing revealed something extraordinary: the slate had writing on it – in archaic Hebrew letters!

Upon this discovery, every unearthed shard of slate was washed and examined. The result was spectacular: the archaeologists found markings on hundreds of slates; drawings, doodles and short texts in Hebrew and German writing. What makes these finds so unusual is that they came down to us by accident. Texts from the Middle Ages have normally only survived to this day if someone thought them very important at the time. Everyday items such as shopping lists, for example, were mostly not kept with care and have therefore not been preserved as a rule. The slate finds from Cologne consequently afford a rare insight into the everyday life of the city’s Jews in the medieval period.

Gunprecht, Jakob and Koppchen

Some slates show lists of names, partly with amounts of money next to each one. A particularly well-preserved example in this category is find no. 2204;1. This list comprises over 60 entries, each of them composed of a name and amount in hellers or pfennigs. There is no heading or other additional information, just names and amounts.

Fig. 1: Find no. 2204;1 © Christina Kohnen / Archaeological Zone, City of Cologne

The names used in the list are quite different from the names of Cologne Jews handed down by other sources. It was customary to have a „synagogue name“ that followed the traditional Jewish naming conventions. This name was used for ‚official‘ purposes: on gravestones, in documents or in the synagogue, as it were. A typical synagogue name would go something like „Jakob ben [son of] David“. The nicknames and pet forms frequently used in everyday life are only known today in the rarest of cases. Whereas find no. 2204;1 almost exclusively features these everyday names, which are often of German origin or Germanized pet forms of Hebrew names. A good example for this is ‚Gunprecht Koppchen‘: Gunprecht is a typical German first name of the Middle Ages, while ‚Koppchen‘ is a Germanized pet form of the Hebrew ‚Jacob‘. The names used here can thus yield information about the importance of Hebrew and German in the everyday life of Jews in medieval Cologne. Around half the persons recorded in the list are women. This fact illustrates a unique feature of medieval Jewish communities in what is Germany today: men and women were more or less equals in business. Jewish women often had own occupations, concluded their own contracts and managed their own money.

Find no. 2204;1 and the other slates from the excavations in Cologne will surely be able to provide further information about the history of the city’s Jewish community in the future. The accidental find in 2011 was a rare stroke of luck for the research and opens up new perspectives on the everyday life of medieval Jews. Find no. 2204;1 will — along with other slate finds from the Archaeological Zone — be on view in the future permanent exhibition of the MiQua.

A contribution by Maximilian Holfelder.

Maximilian Holfelder is attending a MA course in Jewish studies at Goethe University in Frankfurt. He works as an assistant at the seminar for Jewish studies and wrote his BA thesis about find no. 2204;1.

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